Warum diese Recherche?
Im Herbst 2022 trafen wir uns, erschüttert und wütend über den Tod des 16 jährigen alten Mouhamed Lamine Dramé nach einem Polizeieinsatz in der Dortmunder Nordstadt. Sein Tod mobilisierte viele Tausend Menschen zu Demonstrationen gegen rassistische Polizeigewalt. Nicht nur uns beschäftigte dieser Fall sehr, vor allem weil er in einer Reihe mit weiteren bekannten Todesopfern bei Einsätzen durch die Polizei stand. Hier zeigte sich auch beispielhaft, dass wichtige und entscheidende Details erst nach massivem Kraftaufwand, Engagement und Druck von außen bekannt werden.
Wir hatten schon oft von Todesfällen ähnlicher Art gehört. Eine Auflistung solcher Fälle, um uns in unserer politischen Arbeit damit zu beschäftigen, suchten wir vergeblich. Gleichzeitig stießen wir nach kurzer Recherche auf zahlreiche Meldungen mit tödlichem Ausgang aus dem Jahr 2022, von denen wir noch nie gehört hatten. Uns wurde klar, dass über viele dieser Todesfälle fast nie ausführlich berichtet wird und es oft auch keine zivilgesellschaftliche Initiative gibt, die um Aufklärung des jeweiligen Falls kämpft. Dies hat uns schockiert.
Viele der Meldungen der Polizeipressestellen wiesen ähnliche sprachliche Formulierungen auf und auch der Ablauf des Geschehens schien oft übereinzustimmen. Immer wieder stießen wir auch auf einzelne Fälle, bei denen im Nachgang Fehlverhalten von Beamt*innen aufgedeckt wurde. Auffällig dabei war, dass dieses Fehlverhalten fast ausschließlich durch die Bemühungen von Privatpersonen (wie Angehörigen), Intitativen und Anwälten aufgeklärt wird. Diese zeit- und ressourcenintensive Aufgabe scheint demnach nicht von Polizist*innen, Staatsanwaltschaft oder Politiker*innen wahrgenommen zu werden. Zu Verurteilungen kommt es beinahe nie. Ermittlungen werden häufig sehr schnell eingestellt und die meisten Todesfälle haben keinerlei Konsequenzen für die Beamt*innen, ganz zu schweigen von einer transparenten Aufarbeitung für die breite Öffentlichkeit.
Aufgrund dieser Tatsachen und der augenscheinlichen Abwehrhaltung und Verschleierung von Informationen, können wir der Polizei nicht trauen. Wir verurteilen, dass die Schaffung von Transparenz von behördlicher Seite immer wieder verhindert wird und Fehler kategorisch abgestritten werden.
Und so begann unsere Recherche zu tödlichen Polizeieinsätzen in Deutschland. Unser Ziel ist es, alle Personen aufzulisten, die im letzten Jahr während oder in Folge einer polizeilichen Maßnahme gestorben sind. Auch wenn nicht alle Todesfälle so eindeutig auf die Täter*innenschaft der Polizei verweisen, wie der von Mouhamed Lamine Dramé, so stellt sich dennoch oft die Frage nach deren (Mit-)Verantwortung. Unsere Leitfrage, um über die Aufnahme in die Liste zu entscheiden, lautet: „Wäre die Person noch am Leben, wenn die Polizei nicht gekommen wäre?“.
Wenn wir darauf nicht mit einem klaren “Nein” antworten können, erscheint uns aus der Erfahrung von mangelnder Aufklärung eine Skepsis erstmal angemessen.
Neben einer kurzen Beschreibung der Fälle nennen wir auch verschiedene Quellen. Auch wenn die Quellenlage von Fall zu Fall stark variiert, versuchen wir, einschlägige und ausführliche Presseberichte, aktivistische Arbeiten oder Beiträge aus Perspektive der Angehörigen zu verlinken. Wenn es besonders wenig Informationen gibt, verweisen wir auch auf Pressemitteilungen der Polizei. Die Recherchen umfassen fast nur öffentlich zugängliche Quellen oder greifen auf Anfragen bei der Plattform “FragdenStaat” zurück.
(Selbst-)kritische Anmerkungen
Unsere Recherche fand ehrenamtlich und mit begrenzten Ressourcen statt. Trotz intensiver Suche können wir die Vollständigkeit nicht garantieren. Häufig müssen wir Formulierungen aus Medienberichten und demnach beispielsweise auch binäre Geschlechtszuschreibungen übernehmen.
Auch wir können und wollen durch unsere Zusammenstellungen keine “richtige” Darstellung der Ereignisse erreichen. Vielmehr ist uns wichtig, Folgendes herauszustellen:
1. Fragen, die offen und ungeklärt bleiben, beispielsweise durch mangelnde Informationen und geringe Berichterstattung
2. Auffällige Widersprüche oder Verzerrungen, beispielsweise wenn neue Erkenntnisse erkämpft werden oder nicht übereinstimmende Aussagen im Raum stehen
3. Relevante sprachliche und ereignisbezogene Muster und Gemeinsamkeiten, die uns bei der Recherche immer wieder begegnen
Einige der von uns gesammelten Todesfälle bei Polizeieinsätzen stehen in Zusammenhang mit versuchten oder passierten Femiziden. Ein Femizid ist ein geschlechtlich motivierter Mord an einer Frau oder weiblich gelesenen Person durch einen Mann, mit dem sie in einer Beziehung steht. Uns haben die Femizide im Zusammenhang mit den Fällen sehr betroffen gemacht und wir ordnen sie in einen größeren, gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang von patriarchaler Gewalt und gefährlicher männlicher Sozialisation ein. Dafür gibt es auch den Begriff Feminizid, welcher die staatliche Unsichtbarmachung, Straflosigkeit und Tolerierung von Femiziden bezeichnet. Das zeigt sich in Deutschland beispielsweise an medialen Benennungen von Femiziden als „Beziehungsdrama“, wo den Getöteten eine Mitschuld an der Tat unterstellt wird. In dieser Struktur bewegen sich auch männlich sozialisierte Beamte, weswegen es schockierenderweise immer wieder zu Femiziden mit Dienstwaffen kommt.